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Wie sie es erwartet hatte: Ein Kilo mehr als gestern. Mit den Weihnachtsfeiern und anderen Zwangsmahlzeiten lag sie nun 2,5 kg über ihrem Tiefstgewicht. Das waren somit genau 2,5 kg zuviel.
Sie stieg von der Waage und zog sich schnell einen dicken Fleece-Pulli über, denn sie fror wie immer schrecklich.
Mit heute waren es noch genau 5 Tage. 5 Tage Zeit, das überflüssige Gewicht zu verlieren, und somit gut gelaunt dem Weihnachtsfest entgegen zu sehen. Sie sah kein Problem darin. Sie hatte schon mehr in weniger Zeit abgenommen. Manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht an manchen Tagen absichtlich über die Stränge schlug, um danach wieder hungern zu können, ohne dabei unter das Gewicht zu kommen, dass ihr als Untergrenze gesetzt worden war: 55 kg. Bei einer Größe von 1,77 m ist das die Grenze, die sie nicht unterschreiten dürfen. Wenn doch, werde ich die ambulante Therapie beenden, und sie in eine Klinik schicken, hatte ihr der Therapeut gedroht. Insgeheim lächelt sie innerlich. Drohe mir doch, ich bin lange nicht so dumm wie ich blond binSie hatte sich informiert, und wusste genau, dass sie als Volljährige nicht so einfach zwangseingewiesen werden konnte. Schließlich waren 55 kg noch lange nicht lebensbedrohlich. Noch lange nicht.
Obwohl dies sicher nicht Sinn der Sache gewesen war, diese 55 kg waren nun ihr Ziel. Dieses Gewicht musste sie erreichen. Nicht unterschreiten. Natürlich nicht. Sie wollte die Therapie weiter machen, brauchte die Stunden mit dem Therapeuten. Auch wenn sie das Gefühl hatte, dass sie nur den Dreck in ihrer Seele aufwirbelten, und ihr das ganze Ausmaß ihrer Probleme vor Augen führten. Aber so musste es wohl sein. Die Essstörung war nur ein Ventil, um von den eigentlichen Problemen des Lebens abzulenken. Und seit sie sich dieser bewusst war, schlugen die Wogen des schwierigen Alltages über ihrem Kopf zusammen und gaben ihr das Gefühl bald zu ersticken.
Sie zog sich an, und verließ das Haus, um zur Arbeit zu gehen. Heute war der letzte Arbeitstag. Ab morgen war sie frei. Sie konnte tun und lassen was sie wollte, für zweieinhalb Wochen. Könnte sie, wäre sie nicht in ihrem eigenen Gefängnis eingesperrt. Die Mauern dieses Gefängnisses waren die dunklen Schatten der Kontrolle, der Schmerz des Hungers, nachdem sie süchtig war und der fortwährende Zwang in Bewegung zu bleiben, zu arbeiten, alles gut zu machen und wann immer es sich zeitlich einrichten ließ Sport zu treiben. Auch die Weihnachtszeit würde ihr keine Ruhe und Erholung bringen. Denn die hatte sie nicht verdient, die gönnte sie sich einfach nicht. Mein Gefängnis so lautete der Text, den sie neulich geschrieben hatte:
Ich bin gefangen in einer kleinen Hütte die aus schweren schwarzen Steinen gebaut wurde. Es gibt kein Fenster, nur eine schwere Stahltür, die verschlossen ist.
Ich sitze darin, in der Dunkelheit und Kälte, und fürchte mich sehr. Aus meinem Gefängnis kann ich nur entkommen, wenn ich den Schlüssel finde, der irgendwo in der Dunkelheit verborgen ist. Schon viele Male habe ich nach ihm gesucht, aber ich finde ihn nicht. Ich werde immer schwächer, und mir ist so kalt, und am liebsten würde ich nur noch schlafen. Träumen, nie mehr aufwachen.
Draußen stehen vor den Mauern Menschen, die mich retten wollen. Manche schlagen mit bloßen Fäusten gegen die Mauern, andere mit Hämmern. Aber der Stein gibt nicht nach. Nur die Schläge hallen in dem kleinen dunklen Raum wie Donnerschläge, und tun in meinen Ohren weh.
Keiner kann mir helfen, solange ich nicht aufstehe und den Schlüssel suche. Ich muss ihn finden.
Heute, und die Tage bis Weihnachten würde sie nicht nach dem Schlüssel suchen. Sie würde sich einfach einbilden, ihr Gefängnis sei gemütlich und warm. Niemand könne sie stören, niemand ihr zu nahe treten. Sie hatte heute kein Essen zur Arbeit mitgenommen. Denn sie würde heute nicht essen. Und auch morgen nicht. Wie ein Kind, daß heimlich etwas verbotenes getan hatte, freute sie sich innerlich über diesen Beschluss, und die Erfolge, die daraus hervorgehen würden. Sie würde ihr Ziel erreichen, und sauber und rein wie ein Weihnachtsengel dem Fest entgegentreten können.